Tierstudien 24
In „Tiere und Geschlecht: Tierstudien 24“ beschäftigen sich Jessica Ullrich und Mieke Roscher mit den vielschichtigen Verbindungen zwischen der menschlichen Geschlechterordnung und den Beziehungen, die wir zu Tieren pflegen. Doch das Buch geht über die Mensch-Tier-Beziehung hinaus und untersucht auch das Geschlechterverhältnis unter den Tieren selbst. Das zentrale Anliegen der Autor*innen ist es, zu analysieren, inwieweit Konzepte der Gender-Theorie auf die Welt der Tiere anwendbar sind, insbesondere um die Geschlechterperformativität und damit die Konstruktion von männlichen und weiblichen Aktivitäten in tierischen und tierbezogenen Praktiken zu beleuchten.
Ein herausragendes Thema des Buches ist die Frage, ob Tiere nicht nur ein biologisches Geschlecht (sex), sondern auch ein soziales Geschlecht (gender) haben, das in diesen Praktiken sichtbar wird. Dieser Ansatz bietet eine radikal neue Perspektive auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier sowie auf die Art und Weise, wie wir Tiere in der menschlichen Kultur verorten und wie Tiere wiederum aktiv an der Co-Evolution von Kultur teilnehmen. Diese Sichtweise legt den Grundstein für die Diskussion darüber, wie menschliche Projektionen von Geschlechternormen auf Tiere Praktiken und Verhaltensweisen beeinflussen, die sich sowohl in den Körpern der Tiere als auch in den menschlichen Gesellschaften niederschlagen.
Das Buch thematisiert diverse Praktiken, die von der Tierzucht über die Tierhaltung bis hin zur Zerstörung von Tieren reichen. Der Einfluss von Geschlecht und Gender zeigt sich in der Art und Weise, wie Menschen Tiere selektieren und kontrollieren. So wird die Fortpflanzungsfähigkeit von Nutztieren durch Hormontherapien gesteigert, Haustiere werden kastriert oder sterilisiert, und männliche Küken werden in der industriellen Tierproduktion als unbrauchbar angesehen und systematisch getötet. Diese Vorgänge basieren auf einer vergeschlechtlichten Auswahl, die tief in den Praktiken der Tierzucht verwurzelt ist.
Ein weiteres faszinierendes Thema ist die soziale Konstruktion von Gender im Zusammenhang mit Tieren. Hier beleuchten die Autor*innen verschiedene Phänomene wie „Animal Drag“, Zoosexualität und tierliche Homosexualität. Dabei geht es auch um hegemoniale Männlichkeitsstrukturen in der Mensch-Tier-Beziehung, die unter anderem in der Pferdeliebe junger Mädchen, in der Falknerei oder in der Hundehaltung zum Ausdruck kommen. Diese kulturell geprägten Beziehungen haben weitreichende Auswirkungen auf die Interaktionen zwischen Mensch und Tier und offenbaren tief verwurzelte Geschlechternormen.
Darüber hinaus umfasst das Buch eine Vielzahl von Fallbeispielen, die das breite Spektrum der vergeschlechtlichten Beziehungen zwischen Tieren und Menschen verdeutlichen. Beispiele reichen von Hühnern, Fischen und Bulldoggen bis hin zu Löwinnen, wobei auch die praktischen und ethischen Implikationen dieser Beziehungen untersucht werden. Insbesondere in Bereichen wie der Schweinezucht oder dem Handel mit Zibetkatzen werden komplexe Geschlechterkonstellationen sichtbar, die auf interessante Weise mit menschlichen Vorstellungen von Gender interagieren.
„Tiere und Geschlecht“ bietet somit eine interdisziplinäre und tiefgreifende Auseinandersetzung mit einem oft übersehenen Aspekt der Mensch-Tier-Beziehung. Das Buch richtet sich an Wissenschaftlerinnen und interessierte Leserinnen, die sich für die Schnittstellen von Gender-Theorie, Tierethik und kulturellen Praktiken interessieren. Mit Beiträgen von renommierten Expert*innen ist dieses Werk eine wichtige Ressource für das Verständnis der vergeschlechtlichten Strukturen im Umgang mit Tieren und den tiefen kulturellen Einflüssen, die diese Beziehungen prägen.